Syringa vulgaris und Buddleja davidii

Invasivität am Beispiel von zwei Fliederarten

Der Nachbar der Eltern wohnt direkt am Waldrand. Sein Garten ist von keiner Hecke umgeben, der Übergang vom Garten zum Wald ist fliessend. Im Garten blüht ein Fliederstrauch, er blüht schnell und pompös und der Nachbar schätzt ihn sehr.

Der Vater ist oft im Wald unterwegs und findet dort viele kleine Fliedersträucher. Sie wachsen an den unmöglichsten Orten; zwischen Steinen, an trockenen Abhängen, inmitten anderer Pflanzen. Der Vater reisst die Sträucher aus und wenn er Zeit hat, verbrennt er sie.

Diese Fliedersträuche werden auch Schmetterlingsflieder genannt und in der Schweiz gelten sie als invasive Neophyten. Der Vater hat den Nachbarn schon oft darauf hingewiesen und ihn gebeten, den Schmetterlingsflieder aus seinem Garten zu entfernen. Doch dem Nachbarn gefallen die violetten Blüten und ihr Geruch zu sehr, er möchte sie nicht verbrennen.

Im Garten der Eltern steht ebenfalls ein Flieder, der Gemeiner Flieder genannt wird. Für die Eltern ist er die einheimische, bessere Variante zum böse wuchernden Schmetterlingsflieder. Wenn der Flieder im Sommer blüht, stellen die Eltern duftende Zweige in ihr Wohnzimmer, es wird viel über den Flieder gesprochen. Doch auch der Gemeine Flieder ist in der Schweiz nicht einheimisch. Er gilt ebenfalls als Neophyt, jedoch wird er nicht als invasiv eingestuft.

In diesem Artikel möchten wir den Unterschied zwischen Neophyten und invasiven Neophyten aufzeigen und betrachten, mit welchen Kriterien Pflanzen klassifiziert und eingeschätzt werden. Am Beispiel des Schmetterlingsflieders im Isenthal im Kanton Uri beleuchten wir zudem, wie mit invasiven Pflanzen in der Schweiz umgegangen wird.

Der Schmetterlingsflieder kann mit dem Namen seiner Gattung, Sommerflieder, oder dem wissenschaftlichen Namen Buddleja davidii bezeichnet werden und gehört zur Familie der Braunwurzgewächse. Die Gattung wurde nach Reverend Adam Buddle, einem englischen Botaniker, Buddleja genannt. Der Artname davidii ehrt den französischen Missionar und Entdecker in China, Pater Armand David, der als erster Europäer von diesem Strauch berichtete1Coats, Alice M. und John L Creech 1992: Garden Shrubs and Their Histories. New York: Simon & Schuster.. Der invasive Sommerflieder entwickelt sich in Europa zunehmend zu einem Problem. Von ihm zu unterscheiden ist der Gemeine Flieder, ein Neophyt, der in der Schweiz nicht als invasiv gilt. Der mit dem wissenschaftlichen Namen Syringa vulgaris bezeichnete Strauch gehört zur Familie der Ölbaumgewächse. Der Gattungsname Syringa repräsentiert einen medizinischen Terminus mit der Bedeutung «Einlauf» oder «Einspritzung»2Helmut Genaust 32005 (1996): Etymologisches Wörterbuch der botanischen Pflanzennamen. Hamburg: Nikol Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG.. Er ist eine beliebte Zierpflanze in Gärten, verströmt den typischen Fliederduft und wird in vielen Gedichten thematisiert. Die beiden Flieder sind folglich nicht verwandt, sondern gehören einzig derselben Ordnung an. Was sie zu demselben Namen geführt hat, war ihr ähnliches Aussehen3Info Flora: Syringa vulgaris L. <https://www.infoflora.ch/de/flora/syringa-vulgaris.html>. 09.01.2023..

Der gemeine Flieder

Lilablauer, weißer Flieder
duftet alle Jahre wieder,
blüht wie auch in jedem Jahr,
einzigartig, wunderbar.

All die Bienen, Schmetterlinge
mögen Duft und süße Dinge,
wie auch Hummeln und Hornissen,
wollen sie ihn nicht vermissen.

Diese frühlingshaften Bäume,
Büsche der Syringa-Träume,
denn sie sind gar nicht gemein,
laden alle Flügler ein.

Sich zu stärken und zu laben,
gegen Hunger, für die Waben,
bis der Sommerflieder blüht,
der sich auch um sie bemüht.

Gabriela Bredehorn (2017), aus der Sammlung: Natur

Gemeiner Flieder (Syringa vulgaris)
Der Gemeine Flieder ist ein bis zu sechs Meter hoher Strauch oder Baum. Er ist an den ei- bis herzförmigen Blättern sowie lila, violetten oder weissen Blüten, die in kegelförmigen Rispen angeordnet sind, zu erkennen. Gärtner*innen erfreuen sich von April bis Mai über die strahlenden Blütenfarben. Der Gemeine Flieder ist in der Schweiz kultiviert und gelegentlich verwildert. Das bedeutet, dass er sowohl in Gärten sowie an Bachläufen wild zu finden ist4Info Flora: Syringa vulgaris L. <https://www.infoflora.ch/de/flora/syringa-vulgaris.html>. 09.01.2023.. Ursprünglich stammt der Gemeine Flieder aus Südosteuropa. Eine erste erhaltene Abbildung stammt aus dem 16. Jahrhundert. Damals reiste ein Botschafter von Ferdinand I., dem Kaiser des Römischen Reiches, nach Istanbul. Ein Grossteil Europas gehörte damals dem Osmanische Reich an. So wurde 1589 der gemeine Flieder als Zierstrauch in Mitteleuropa eingeführt5Poeplau, Zvezdana 2002: Wie der Flieder nach Mitteleuropa kam. idw-online. <https://idw-online.de/de/news47796>. 09.1.2023..

Syringa vulgaris6 Aline Bissig 2023

Schmetterlingsflieder (Buddleja davidii)
Der bis zu drei Meter hohe Strauch ist eine weit verbreitete und beliebte Gartenpflanze von wirtschaftlichem Wert für die Gartenbauindustrie. Neben den zugespitzten Blättern besitzt er wie der Gemeine Flieder kegelförmige Blütenstände aus meist purpurvioletten Blüten. Diese blühen von Juli bis August7Info Flora: Buddleja davidii Franch. <https://www.infoflora.ch/de/flora/buddleja-davidii.html>. 09.01.2023.. Der Schmetterlingsflieder ist in Zentral- und Südwestchina heimisch, wo die Art in Dickichten an Berghängen zu finden ist. In seinem ursprünglichen Verbreitungsgebiet wird er nur einen bis eineinhalb Meter hoch. In der Zeit der industriellen Revolution in Europa wurden Arten aus dem fernen Osten eingeführt, die ihren Platz in den Gärten der aufsteigenden Mittelschicht fanden. Da nur wenige der eingeführten Arten ausserhalb der Gärten überleben konnten, wurde kein Wert darauf gelegt, eine Ausbreitung zu verhindern. Die ersten Beobachtungen in der freien europäischen Natur gehen auf die 1930er Jahre in England zurück. In den 1950er und 1960er Jahren wurde der Schmetterlingsflieder im Vereinigten Königreich zu einem beliebten Gartenstrauch, was weiter dazu beitrug, dass sich die Pflanze in der freien Natur einbürgerte. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen seine Bestände in Mitteleuropa und Grossbritannien rasch zu, da der Schmetterlingsflieder die Trümmer der bombardierten Städte besiedelte8Tallent-Halsell, N.G. und M.S. Watt 2009: The Invasive Buddleja davidii (Butterfly Bush). The Botanical Review 75 (3): 292–325..
Mit Unterarten von Buddleja davidii, die in das Vereinigte Königreich eingeführt wurden, wurden in den späten 1990er Jahren mehrere Hybridisierungsprogramme durchgeführt9Tallent-Halsell, N.G. und M.S. Watt 2009: The Invasive Buddleja davidii (Butterfly Bush). The Botanical Review 75 (3): 292–325.. Eine Hybridisierung bezeichnet hierbei eine Begattung einer invasiven Art mit einer verwandten einheimischen Art10Nentwig, Wolfgang (2010): Invasive Arten. Bern: Haupt Verlag. S.67.. Feldbeobachtungen haben gezeigt, dass sich die Hybride durch Samen reichlich vermehrt haben und invasive Eigenschaften aufweisen. Der Zierstrauch aus China ist rasch verwildert, beginnt dichte Bestände zu bilden und die lokale einheimische Vegetation zu verdrängen. Die Auswirkungen auf die Biodiversität sind dort besonders hoch, wo sich der Schmetterlingsstrauch langfristig festsetzt11Tallent-Halsell, N.G. und M.S. Watt 2009: The Invasive Buddleja davidii (Butterfly Bush). The Botanical Review 75 (3): 292–325..

Es sind weltweit ungefähr 100 Arten der Gattung Buddleja bekannt, die mit Ausnahme von Buddleja davidii eine tropische bis subtropische Verbreitung aufweisen. Buddleja davidii ist die einzige Art der Gattung Buddleja, die heute in der Schweiz eingebürgert ist12Tallent-Halsell, N.G. und M.S. Watt 2009: The Invasive Buddleja davidii (Butterfly Bush). The Botanical Review 75 (3): 292–325.. Dem Schmetterlingsflieder gelingt es, sich in Lebensräumen mit ozeanischem, kontinentalem und mediterranem Klima anzusiedeln. Er ist in der Schweiz überall anzutreffen, besonders häufig im Tessin und dem Kanton Genf. Dort wächst der Strauch grösstenteils im städtischen Umfeld, wie in Industriegebieten und Brachen, sowie an Bahngleisen und Verkehrswegen. Dies liegt daran, dass seine Samen zur Keimung viel Licht benötigen und er sich gerne auf Pionierflächen mit steinigen Böden verbreitet. Ausserdem ist er in der Lage, in Ritzen von Mauern und Gebäuden, in Kiesgruben, Steinbrüchen und auf Felswänden zu wachsen. Der Flieder besiedelt auch Pionierflächen im Schwemmbereich von Flüssen, wie beispielsweise Kiesinseln. Der Strauch dient dort als Nahrungsquelle und Ruheplatz für viele Schmetterlinge13Info Flora: Buddleja davidii Franch. <https://www.infoflora.ch/de/flora/buddleja-davidii.html>. 09.01.2023..

Buddleia davidii14Aline Bissig 2023

Invasive gebietsfremde Organismen: gebietsfremde Organismen, von denen bekannt ist oder angenommen werden muss, dass sie sich in der Schweiz ausbreiten und eine so hohe Bestandsdichte erreichen können, dass dadurch die biologische Vielfalt und deren nachhaltige Nutzung beeinträchtigt oder Mensch, Tier oder Umwelt gefährdet werden können.

Artikel 3 Absatz h Freisetzungsverordnung

Es gibt mehrere Faktoren, aufgrund derer der Schmetterlingsflieder als invasiv eingestuft wird. Er ist einerseits in der Lage, eine Vielzahl von physischen Bedingungen zu tolerieren und kann so leere Nischen füllen. Dazu zählen Steinbrüche, städtische Müllhalden, verlassene Anbauflächen, abgeholzte Wälder oder Felswände15Tallent-Halsell, N.G. und M.S. Watt 2009: The Invasive Buddleja davidii (Butterfly Bush). The Botanical Review 75 (3): 292–325.. Der Schmetterlingsstrauch blockiert als Pionierpflanze die natürliche Abfolge von Entwicklungsstadien eines Lebensraums. Aufgrund seiner Dominanz durch die verschiedenen Fortpflanzungsmöglichkeiten verdrängt er schnell einheimische Pflanzenarten16Info Flora: Buddleja davidii Franch. <https://www.infoflora.ch/de/flora/buddleja-davidii.html>. 09.01.2023.. Zudem wachsen seine Wurzeln schnell und entwickeln ausgedehnte Netzwerke von feinen Wurzeln, die in der Lage sind, Schäden durch Überflutung und maschinelle Entfernung zu überstehen. Unabhängig von seiner Beliebtheit in der Landschaftsgestaltung, stellt der Schmetterlingsflieder wegen seiner Fähigkeit, sich über Gartengrenzen hinaus unter einer Vielzahl von Wachstumsbedingungen schnell auszubreiten und dort die einheimische Flora zu dominieren, ein grosses Problem dar17Tallent-Halsell, N.G. und M.S. Watt 2009: The Invasive Buddleja davidii (Butterfly Bush). The Botanical Review 75 (3): 292–325.. Ein Schlüsselfaktor ist der hohe Aussaatdruck der Spezies, der die Ausbreitung einer großen Menge von Samen ermöglicht, die innerhalb relativ kurzer Zeit keimen. Die daraus resultierenden Sämlinge können sich schnell etablieren18Tallent-Halsell, N.G. und M.S. Watt 2009: The Invasive Buddleja davidii (Butterfly Bush). The Botanical Review 75 (3): 292–325.. Eine weitere Stärke ist die relativ kurze Blütezeit der Pflanze. Über den Winter behalten die Schmetterlingsflieder die meisten Samen und setzen sie nur unter trockenen Bedingungen frei. Die Freisetzung von Saatgut in Trockenperioden, wenn es in der Lage ist, luftgetragen zu werden, führt zu einer grossflächigen Ausbreitung. Weiter weist der Schmetterlingsflieder viele Blätter für die Photosynthese auf und hat somit eine höhere Photosynthesekapazität als andere Arten19Tallent-Halsell, N.G. und M.S. Watt 2009: The Invasive Buddleja davidii (Butterfly Bush). The Botanical Review 75 (3): 292–325.. Der Strauch hat zudem eine geringe Anfälligkeit für Pflanzenfresser und Krankheiten der westlichen Welt. Aufgrund der Beschattung ansonsten besonnter Flächen werden einheimischen Pflanzen verdrängt, was negative Folgen auf die Insektenwelt hat. Der süsse Duft des Nektars lockt viele Schmetterlingsarten an. Allerdings können sich die Raupen, im Gegensatz zu den Schmetterlingen, nicht von seinen Blättern ernähren. Die Schmetterlinge müssen folglich andere Pflanzen suchen, um ihre Eier ablegen zu können20Info Flora: Buddleja davidii Franch. <https://www.infoflora.ch/de/flora/buddleja-davidii.html>. 09.01.2023..
Auch auf die Wirtschaft kann der Schmetterlingsflieder negative Auswirkungen haben. Der Schmetterlingsflieder beschädigt Infrastrukturen, da er mit seinen Wurzeln in Spalten eindringen kann. Dies verhilft ihm dazu, städtische Lebensräume zu besiedeln, und es verursacht Kosten. Beispielsweise müssen Pflanzenentsorgungen in Parks durchgeführt werden. Das Eindringen des Schmetterlingsflieders in Waldlichtungen verursacht ausserdem zusätzliche Unterhaltskosten für den Erhalt forstlicher Pflanzungen21Info Flora: Buddleja davidii Franch. <https://www.infoflora.ch/de/flora/buddleja-davidii.html>. 09.01.2023..

Invasivität – Schaden  
Die oben gezeigte Definition von invasiv22«Invasive gebietsfremde Organismen: gebietsfremde Organismen, von denen bekannt ist oder angenommen werden muss, dass sie sich in der Schweiz ausbreiten und eine so hohe Bestandsdichte erreichen können, dass dadurch die biologische Vielfalt und deren nachhaltige Nutzung beeinträchtigt oder Mensch, Tier oder Umwelt gefährdet werden können.» ist nur eine mögliche Definition – der Begriff wird aus verschiedenen Perspektiven verwendet. Aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive beschreibt er alle gebietsfremden Arten, also alle Neophyten23Kowarik, Ingo. 22010 (2003): Biologische Invasionen. Neophyten und Neozoen in Mitteleuropa. Stuttgart: Eugen Ulmer KG. 18..
Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) und Info Flora, das nationale Daten- und Informationszentrum der Schweizer Flora, unterscheiden hingegen zwischen Gebietsfremdheit und Invasivität. Eine Art ist invasiv, wenn sie sich einerseits schnell ausbreitet und andererseits Schaden anrichtet24BAFU 2016: Strategie der Schweiz zu invasiven gebietsfremden Arten. Bern: BAFU.. Demnach sind nicht alle Neophyten invasiv. Tatsächlich sind 19% der Schweizer Gesamtflora Neophyten, doch nur 9,7% dieser Neophyten werden als invasiv eingestuft25Info Flora. <https://www.infoflora.ch/de/neophyten/neophyten.html#einleitung-und-definitionen>. 20.1.2023.. Die Beurteilung erfolgt durch das BAFU in Zusammenarbeit mit Info Flora. Sie überprüfen, ob ein Neophyt Schaden anrichtet. Das subjektive Kriterium Schaden wird im Kriterienkatalog von Info Flora weiter erläutert. Schaden umfasst die Toxizität einer Pflanze, ihren Einfluss auf gefährdete und einheimische Pflanzen, auf die Artenvielfalt, die Funktionsweise eines Ökosystems, auf Nutztiere, Nutzpflanzen oder menschlichen Infrastrukturen26Buholzer, Serge et al. 2014: Kriterienkatalog. Beurteilung des Ausbreitungs- und Schadenspotentials von gebietsfremden Pflanzen in der Schweiz. Info Flora.. Der Begriff invasiv wird hier aus einer anthropozentrischen Perspektive verwendet; der Mensch entscheidet, was als Schaden zu betrachten ist und welche Pflanzen, Lebewesen und Lebensräume schützenswert sind. Das BAFU publiziert beispielsweise eine Liste der National Prioritären Arten, die in der Schweiz zu schützen und zu fördern sind27BAFU 2019: Liste der National Prioritären Arten und Lebensräume. In der Schweiz zu fördernde prioritäre Arten und Lebensräume. Bern: BAFU.. Darunter finden sich Arten, die in der Schweiz endemisch sind, wodurch die Schweiz internationale Verantwortung für ihre Erhaltung trägt. Schützenswert sind ausserdem funktionsfähige Ökosysteme und die Fruchtbarkeit der Böden.
Die Ambiguität des Begriffs invasiv führt dazu, dass Pflanzen uneinheitlich klassifiziert und benannt werden. Im Alltag werden die Merkmale Neophyt und invasiv häufig synonym verwendet, dadurch werden nicht-invasive Pflanzen oft nicht als Neophyten wahrgenommen – so auch der Gemeine Flieder im Garten der Eltern.

Raum – Blick ins Ausland   
Hat sich eine Pflanze in anderen europäischen Ländern (ohne Überseegebiete) bereits als invasiv und schädlich erwiesen, wird ihr Schadenspotential auch für die Schweiz geprüft. Ist eine Pflanze in anderen europäischen Ländern zwar gebietsfremd, aber nicht invasiv, dann wird die Pflanze vom BAFU nicht weiter bearbeitet, es sei denn, sie schadet der Schweizer Flora oder Fauna spezifisch. Europa wird so quasi zu einem Raum und zu einem Ökosystem zusammengefasst. Oft ist jedoch eine Differenzierung notwendig, da sich eine gebietsfremde Art beispielsweise in kühleren Gebieten nicht ausbreitet, sich aber in wärmeren Gebieten als invasiv erweisen kann28Kowarik, Ingo 22010 (2003): Biologische Invasionen. Neophyten und Neozoen in Mitteleuropa. Stuttgart: Eugen Ulmer KG. 20, 21.. Im Gegensatz zur Schweiz gelten in Deutschland beide Fliederarten als invasive Neophyten29Nehring et al. 2013: Naturschutzfachliche Invasivitätsbewertungen für in Deutschland wild lebende gebietsfremde Gefäßpflanzen. Bonn: Bundesamt für Naturschutz.. Obwohl Basel und Konstanz sehr ähnliche Klimata und Umweltbedingungen haben, wird der Flieder also nur in einer der Städte als invasiv eingestuft. Die Klassifizierung von Pflanzen ist folglich sowohl von biologischen als auch von politischen Räumen abhängig.

Zeit – Neophyten und Archäophyten
Als Neophyten gelten Pflanzen, die sich nach 1492, also nach der europäischen Entdeckung Amerikas, in anderen Gebieten verbreitet haben. Vor diesem Stichjahr spricht mensch von Archäophyten30Kowarik, Ingo 22010 (2003): Biologische Invasionen. Neophyten und Neozoen in Mitteleuropa. Stuttgart: Eugen Ulmer KG. 23.. 1492 beschreibt den Startschuss für die Zunahme des globalen Austauschs, damit verbunden ist die Zunahme gebietsfremder Arten und der botanischen Globalisierung. Sowohl der gemeine Flieder als auch der Schmetterlingsflieder gelten als Neophyten, da sie seit dem 16. beziehungsweise dem 20. Jahrhundert in Mitteleuropa wachsen.

Die drei aufgeführten Beurteilungskriterien zeigen, wie Vorstellungen von Invasivität, Raum und Zeit die Benennung, Wahrnehmung und nicht zuletzt den Umgang mit der Natur bestimmen. Historische Ereignisse, Landes- und Kontinentalgrenzen sind menschlich konstruiert, die Natur wird es dadurch gezwungenermaßen auch. Obwohl es beim Vorgehen gegen Neophyten um den Schutz der Natur geht, wird diese selbst erst durch den anthropozentrischen Blick des Menschen bestimmt. Einen Schmetterlingsflieder auszureissen, um die Natur zu schützen, ergibt nur deshalb Sinn, weil mensch nur einen bestimmten Teil der Natur als schützenswert ansieht.

Artikel 1 des Bundesgesetzes über den Umweltschutz beschreibt den Zweck ebendieses Gesetzes folgendermassen:

Dieses Gesetz soll Menschen, Tiere und Pflanzen, ihre Lebensgemeinschaften und Lebensräume gegen schädliche oder lästige Einwirkungen schützen sowie die natürlichen Lebensgrundlagen, insbesondere die biologische Vielfalt und die Fruchtbarkeit des Bodens, dauerhaft erhalten.

Artikel 1 Absatz 1 Umweltschutzgesetz

Beim Vorgehen gegen Neophyten geht es darum, die Natur in dem Zustand und Gleichgewicht zu behalten, in dem sie ist, beziehungsweise war. Dadurch sollen die natürlichen Lebensgrundlagen und damit verbunden auch das Überleben der Menschheit gesichert werden. Auch der Umweltschutz, der sich mit der Natur und der Welt um den Menschen befasst, ist also schlussendlich von einem Fokus auf den Menschen selbst geprägt.

Wie geht nun die Schweiz mit invasiven Arten um?

Der Sommerflieder steht in der Schweiz einerseits auf der Liste der invasiven Neophyten, andererseits ist er in vielen privaten Gärten vorzufinden. Sein Verkauf und Anbau sind nicht verboten. In Wäldern, in der freien Natur oder im öffentlichen Raum dürfen gebietsfremde Pflanzen laut Natur- und Heimatschutzgesetz jedoch nur mit einer Bewilligung vom Bundesrat angesiedelt werden31Art. 23 NHG.. Die Freisetzungsverordnung beschreibt ausserdem die Pflicht zur Selbstkontrolle und Sorgfalt, wonach mensch sich über die möglichen Auswirkungen einer Pflanze informieren muss, bevor mensch diese in die Umwelt einbringt32Art. 4, Art. 6 FrSV.. Wird ein Neophyt ohne Bewilligung in die Umwelt eingebracht, darf das BAFU einen Nachweis dieser Selbstkontrolle verlangen33Art. 46 FrSV..
Private Gärten oder Parkanlagen sind von dieser Bewilligungspflicht ausgenommen, einen Sommerflieder im eigenen Garten zu pflanzen, ist daher legal. Da sich der Sommerflieder als invasiver Neophyt ausgehend von den Gärten in die umliegende freie Natur ausbreitet und dort andere Pflanzen verdrängt, stellt Info Flora Merkblätter, Broschüren und Informationsanlässe zur Verfügung. Diese sollen die Bevölkerung dazu animieren, auf Neophyten in ihren Gärten zu verzichten. Ausserdem findet mensch auf ihrer Webseite ein interaktives Meldetool für gebietsfremde Pflanzen. So können die Fundorte den betroffenen Stellen (Gemeinden, Kantonen) gemeldet werden, um die Ausbreitung einer invasiven Spezies zu dokumentieren und gegebenenfalls zu verhindern. Beim Umgang mit invasiven Neophyten setzt die Schweiz also unter anderem auf Eigenverantwortung.

Auch im Kanton Uri gibt es ähnliche Angebote. Im Herbst 2022 riefen das Amt für Umweltschutz und der Forstbetrieb Urnersee die Gartenbesitzer*innen der Seegemeinden dazu auf, die Neophyten in ihren Gärten durch einheimische Pflanzen zu ersetzen34Kanton Uri: Neobiota. Dienstleistungen. <https://www.ur.ch/dienstleistungen/3656>. 24.01.2023.. Ein Flyer klärt über sogenannte «Problempflanzen» auf und stellt Alternativen vor, um die Biodiversität zu fördern. Diese Alternativpflanzen konnten gratis bestellt und bei Gärtnereien abgeholt werden. Anlass für diese Aktion war die Zunahme von invasiven Neophyten, die sich ausserhalb von Privatgärten in der Natur etabliert hatten35Kanton Uri: Pionierprojekt: Invasive Pflanzen jetzt gratis ersetzen. <https://www.ur.ch/mmdirektionen/95830>. 24.01.2023..

Das Isenthal ist ein Bergtal, das leicht erhöht über dem Vierwaldstättersee liegt. Es gibt eine einzige Zufahrtstrasse, die Isenthalerstrasse, die oberhalb des Isenthalerbachs durch den Wald führt. Die Strasse ist schmal und an manchen Stellen einspurig. Es ist deshalb wichtig, den entgegenkommenden Verkehr schon frühzeitig zu sehen, damit mensch bei einer Ausweichstelle warten kann. Der Wald um die Isenthalerstrasse wird regelmässig gepflegt, um einerseits eine gute Sicht zu ermöglichen und andererseits sicherzustellen, dass sich keine Bäume aus der steilen Böschung lösen und auf die Strasse fallen. 

Die Isenthalerstrasse ist ausserdem eine beliebte Spazierstrecke. Bei einem dieser Spaziergänge fielen die vielen Sommerfliederbüsche an der Böschung neben der Strasse auf. Im Wald wurde vor kurzem geholzt und viele Bäume und Büsche wurden gefällt. Der Sommerflieder wurde stehengelassen und schien den Wald eingenommen zu haben.

Die Zuständigkeit für die Neophytenbekämpfung ist im Kanton Uri territorial geregelt. Im Wald ist das Amt für Forst und Jagd dafür zuständig. Die Federführung und Koordination erfolgt über das Amt für Umwelt36Kanton Uri: Amt für Forst und Jagd. Ämter. <https://www.ur.ch/aemter/851>. 09.01.2023.. Beim Amt für Forst und Jagd des Kanton Uri haben wir uns danach erkundigt, warum der Schmetterlingsflieder unterhalb der Isenthalerstrasse trotz eines forstlichen Eingriffs stehengelassen wurde. Wir wollten wissen, welche Kriterien im Kanton Uri bei einem forstlichen Eingriff berücksichtigt werden, um zu bestimmen, welche Pflanzen stehengelassen und welche entfernt werden.

Auf unsere Fragen haben wir die Antwort erhalten, dass die jeweils zuständigen Revierförster*innen oder Kreisforstmeister*innen dafür verantwortlich seien, welche Bäume bei einem Pflegeeingriff stehengelassen beziehungsweise abgeholzt werden. Dabei werden diverse Kriterien wie die Waldfunktion, die Baumartenzusammensetzung, die Stabilität, der vorhandene Nachwuchs im Wald sowie diverse Infrastruktur-Einrichtungen berücksichtigt. 

Im Kanton Uri ist 57% des Waldes Schutzwald und der Wald wird regelmässig gepflegt, um die Schutzwirkung zu gewährleisten. Revierförster*innen oder Kreisforstmeister*innen müssen «[…] von der vorhandenen Waldbestockung ausgehen und sich überlegen, ob der aktuelle Zustand der Zielvorstellung entspricht und wie sich der Wald auch ohne Eingriffe entwickeln würde.» Unser Fallbeispiel kann als Spezialfall angesehen werden, da mit der Isenthalerstrasse als Kantonsstrassenwerk besondere Anforderungen verbunden sind. Zu diesen Anforderungen zählen die Sicherheit der Verkehrsteilnehmenden sowie die Verhinderung von Schäden an der Strasse. Eine Waldbestockung im Bereich der Kantonsstrasse sollte möglichst stabil sein. Es sollten keine Bäume auf die Strasse fallen können und die Sicht sollte mit dem Fällen von Bäumen verbessert werden. Bezüglich dieser Kriterien stellt der Schmetterlingsflieder kein Problem dar. Obwohl der Schmetterlingsflieder im Urner Wald stark verbreitet ist, wird er aus Gründen des Aufwands nicht mit öffentlichen Mitteln bekämpft. «Aufgrund der relativ flächigen Eingriffe konnte sich der Schmetterlingsflieder daher anfänglich stark in diesen Waldflächen entwickeln. Sobald eine natürliche Baumbestockung aufwächst ist aber davon auszugehen, dass der Flieder infolge Beschattung zurückgeht.» Der Schmetterlingsflieder stelle ausserdem keine gesundheitliche Gefahr für Mensch und Tier dar und verhindere den natürlichen Aufwuchs junger Bäume im Wald in der Regel nicht.

Ob invasive Neophyten wie der Schmetterlingsflieder entfernt werden oder nicht, hängt im Kanton Uri von der Art der Nutzfläche ab. In Ufer-, Strassen- und Bahnböschungen ist das Entfernen empfohlen, in Naturschutzgebieten jedoch zwingend37Amt für Umweltschutz 2012: Neophyten-Bekämpfung. Altdorf..

Reflexion und Fazit

Die Klassifizierung einer Pflanze als invasiver Neophyt geschieht von einem anthropozentrischen Standpunkt aus und ist von menschlichen Konstrukten wie der Einteilung von Zeit und Raum abhängig. Trotzdem steht in botanischen Nachschlagewerken das Label invasiv gleichrangig neben der Beschreibung des äusseren Erscheinungsbilds einer Pflanze. Die Invasivität wird als natürliches, inhärentes Merkmal gehandhabt.

Mensch kann die Natur in Kategorien und Beurteilungen wie einheimisch oder invasiv verwalten, dies spiegelt aber nicht die Realität wider. Das zeigt sich auch am konkreten Umgang mit invasiven Neophyten. Trotz seines offiziellen Status als invasiv genießen Gärtner*innen und Gartenbauer*innen weiterhin den schönen und duftenden Schmetterlingsflieder. Der Schmetterlingsflieder wird in vielen Gärten aufgrund von Unwissen oder der schweren Entfernung und Verwaltung, sobald er sich in einem Bereich etabliert hat, stehen gelassen. Die naturwissenschaftliche Bezeichnung einer Pflanze spiegelt also nur eine Facette ihrer Wahrnehmung wider. Die emotionale oder persönliche Perspektive deckt sich nicht zwingend damit.

Wie der Fall des Isenthals zeigt, wird das Zurückdrängen von Schmetterlingsfliedern teilweise aus Gründen des Aufwands erlassen oder mensch zählt auf den natürlichen Ausgleich des Waldes, welcher den Schmetterlingsflieder durch Schatten verdrängt. Der Umgang mit invasiven Neophyten wird von Fall zu Fall von den zuständigen Behörden unterschiedlich beurteilt. Ökolog*innen müssen weiterhin die Auswirkungen von Schmetterlingsfliedern auf unser natürliches Ökosystem untersuchen, um dieses langfristig schützen zu können. Zudem muss unsere Gesellschaft bezüglich des Umgangs mit Neophyten vermehrt sensibilisiert werden um so ihren Beitrag für unser Ökosystem leisten können.


Moana und Aline; interessieren sich für Büsche, Begriffe und dafür, ob Umweltschutz egoistisch ist. Wir studieren Sozialanthropologie, Germanistik und Religionswissenschaften.
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