Musik gewordenes Anthropozän

Ein Erfahrungsbericht

Musik gewordenes Anthropozän und Anthropozän werdende Musik (Vollversion)

Nicht ich, sondern die anthropogenen Güter besitzen die Musik. Spiele ich Musik, spiele ich lediglich die entsprechend meiner Position in der Hierarchie der Gesellschaft den anthropogenen Gütern inhärenten Musiken. Mein Musik gewordenes Anthropozän.

Mit diesen einführenden Worten will ich mein Projekt über die Vertonung meines anthropogenen Alltags in Bern vorstellen. Hierfür habe ich eigentlich nicht viel anders gemacht, als ich es sowieso getan hätte bzw. gehört hätte. An meinem Haus sind Motorräder und Züge vorbeigefahren; ich habe den Mauerseglern zugehört, die in die eigens für sie am Dach angelegten Nisthilfen fliegen, oberhalb derer übrigens manchmal Krähen warten, um die Mauersegler abzufangen; Staub gesaugt; mir Kaffee aus der Kaffeemaschine im Büro rausgelassen; versehentlich gegen eine Plastikkiste getreten; ein Foto geschossen und ein Papier gescannt und ausgedruckt. Der einzige Unterschied: ich habe die klingenden Bewegungen all dieser anthropogenen Güter mit einem weiteren Gut, meinem Mikrofon, aufgenommen und daraus ein Musikstück produziert. Ich nenne es «Musik gewordenes Anthropozän und Anthropozän werdende Musik». Ein zugegeben etwas langer und sperriger Titel, aber treffend für meine etwas erschreckenden Erkenntnisse während des Projekts. Doch bevor ich mich diesen widme, will ich Schritt für Schritt, Aufnahme um Aufnahme den Arbeitsprozess schildern.

1. Zum Lied

Zuerst habe ich an meinen alltäglichen Orten, zu Hause und im Büro, genau hingehört. Im Hinblick darauf, mit Klängen, die ich an diesen beiden Orten regelmässig höre, ein Lied zu produzieren, versuchte ich jene auszumachen, die rhythmisch oder harmonisch am geeignetsten und spannendsten zu klingen schienen. Ich entschied mich für diese acht Güter und deren jeweiligen bzw. provozierten Bewegungsklänge: fliegende Mauersegler, fahrendes Motorrad, bremsender Zug, scannender Scanner, fotografierende Fotokamera (digital), angeschaltete Kaffeemaschine, getretene Plastikkiste, staubsaugender Staubsauger und druckender Drucker. All diese Klänge nahm ich mit einem Shure SM58-Mikrofon via Interface direkt in das Musikprogramm auf dem Computer auf. Ich hörte jede Aufnahme sorgfältig durch, dann editierte und arrangierte ich alle Klänge zu einem aus elf Spuren bestehenden Musikstück. In diesem stellt jede Aufnahmespur jeweils ein Element dar. Dramaturgisch liess ich mich von der für das Anthropozän typische Ressourcenanhäufung inspirieren. Angefangen mit den Mauerseglern und dem Motorrad steigt alle vier Takte ein neues Element ein, das dann bis zum Schluss durchwegs unverändert weitergespielt wird. Im letzten Pattern (ein Pattern besteht aus vier Takten) spielen schliesslich alle elf Elemente zusammen, bis das Stück bei einer Minute und sieben Sekunden endet. Das Tempo ist 90 BPM (beats per minute), die Taktart 4/4.

1.1 Mauersegler und Motorrad

Weil im November Berns wohl alle Mauersegler längst südwärts geflogen sind, konnte ich zum Glück auf eine frühere Aufnahme zurückgreifen, die ich vom Balkon aus gemacht hatte. Darin sind wiederkehrend die Pfiffe der Mauersegler und zu Beginn ein Motorrad zu hören. Hier ein Ausschnitt:

Audiosequenz von Mauersegler und Motorrad

1.2 Zug

Um den Zug aufzunehmen, ging ich erneut auf den Balkon. Obwohl ich ganze drei Minuten lang aufnahm, entschied ich mich nur für einen Ton. Jener, der offenbar dann entsteht, wenn der Zug bremst. Die wie ein Schnauben klingende Sequenz ist von da an, wo die Spur einsetzt, jeweils auf den ersten Schlag eines jeden Taktes gesetzt.

Zug

1.3 Scanner

Aus der Aufnahme des Scanners machte ich zwei Spuren. Für die eine habe ich eine Sequenz herausgeschnitten, bei der es möglich war, den Ton mit einem Plugin herauszuhören. So konnte ich nämlich den Ton mit einem Sampler hoch- und runterpitchen und sodann auf dem Piano als Instrument spielen. Deshalb klingt dieses Element wie ein Synthesizer. Die nun vier aus immer drei Scantönen bestehenden Akkorde, setzte ich wie das Schnauben des Zuges immer auf den ersten Schlag. Das andere Element des Scanners klingt dagegen mehr wie ein Aufploppen, besonders weil ich diesen Klang mit einem Hall versehen habe. Er setzt immer auf den zweiten Schlag ein.

Scanner

1.4 Kameraklick

Hier habe ich das Klickgeräusch aufgenommen, das entsteht, wenn man mit einer klassischen Digitalkamera ein Foto schiesst. Diesen Klang liess ich unverändert und setzte ihn ebenfalls auf den ersten Schlag jeden Taktes.

Kameraklick

1.5 Kaffeemaschine

Um die Kaffeemaschine klanglich in das Lied zu integrieren, machte ich nichts anderes als die Maschine anzuschalten und einfach zu zuhören, welch geeigneten Töne sie von sich gibt. Hiervon habe ich zwei Sequenzen entnommen. Die erste Aufnahme klingt, mitunter weil ich auch diese mit einem Hall abgemischt habe, wie ein höher gepitchtes Schiffshorn, das immer auf den dritten Schlag in den Klangraum hineinhallt. Die andere Sequenz, die im ersten Offbeat, entstand, während die Maschine Bohnen mahlte.

Kaffeemaschine

1.6 Plastikkiste

Hierfür habe ich das Mikrofon in die Kiste gelegt und in etwa so daran getreten, wie es im Alltag versehentlich geschehen könnte. Der Klang eignet sich sehr gut als perkussives Element. Es erklingt immer auf den vierten Schlag in 12teln und ist entsprechend den Tönen des gerade mitklingenden Sacannakkords hoch- oder runtergepitcht.

Plastikkiste

1.7 Staubsauger

Hier habe ich den Klang herausgeschnitten, der ertönt, wenn man den Staubsauger ausschaltet. Dieses Sample habe ich auf den zweiten Offbeat eines jeden Taktes gesetzt.

Staubsauger

1.8 Drucker

Bei der Aufnahme des Druckers merkte ich, wie voll das Klangbild bereits ist. So platzierte ich das auch eher perkussive Element zwischen die anderen Klänge. Im gesamten Klangbild übernimmt es eine füllende Funktion.


Drucker

Meine Umwelt wird bestimmt von CO2- und Lärmemissionen, vermutlich schlechten Arbeitsbedingungen auf Kakaoplantagen, missratenen Nisthilfen für Mauersegler, zu viel verarbeiteten Edelmetallen, gerodeten Wäldern und meinem wegen des Staubsaugers fliehenden Katers, der wiederum im Plural für viele hier ansässige Vogelarten eine tatsächliche Gefahr darstellt. Ich lebe in einer durch und durch anthropogenen Umwelt, in dieser, weil ich in ihr sozialisiert wurde, ich gar nicht anders kann, als eine entsprechend meiner Position ästhetische Wirklichkeit zu hören. Zugegeben, es ist nicht mein bestes Stück, aber ungern höre ich es nicht. Im Umkehrschluss will das heissen, ich auch die Bewegungen jener Güter und deren Ressourcenverbrauch gerne hören muss, die diesem Musikstück vorausgehen. Und wenn ich die entsprechend meiner Position die aus diesen Bewegungen herausgehörten Wirklichkeiten aufnehme, um diese dann zu einem Musikstück zu arrangieren, prosumiere (Verb für die Produktion während der Konsumation) ich während der Produktion das gesellschaftliche Verhältnis zwischen dem Anthropozän und mir. Hier würde ich von der Anthropozän werdenden Musik sprechen, zumindest symbolisch.

3. Ausblick

Der Einstieg in diesen Tex war etwas steil, unverständlich vielleicht auch. Deshalb hoffe ich, jetzt etwas mehr Klarheit geschaffen zu haben. Im Ausblick möchte nämlich auf den in der Einleitung angedeuteten Sachverhalt zurückkommen. Denn ich meine, hinter der hier vollzogenen musikalischen Ableitung eines kleinen Anthropozäns, verbirgt sich doch mehr als eine ästhetische Fatalität eines gewöhnlichen Alltags. Nicht zuletzt wegen dieser Arbeit ist mir aufgefallen, dass nicht die Materie, sondern die Bewegung der, durch und wegen der Materie der Materie Wert hat und schafft. So gehe ich davon aus, dass Materie symbolischer Wertträger ist. Der Wert ist dabei mit den vorausgegangenen und vorausgehenden Bewegungen gleichzusetzten, die in der Materie verwirklichend verdinglicht erscheinen. Dieser, ich nenne ihn mal Bewegungsmaterialismus, kann aus diesem Musikstück herausgehört werden. Die aufgenommenen Klänge entstehen erst, wenn eine bestimmte Materie auf eine bestimmte Weise bewegt wird. Das heisst, die meiner Position entsprechend der Materie inhärente ästhetische Wirklichkeit ist im Grunde nichts anderes als die Bewegung der Materie, die ich höre, wie ich sozialisiert wurde. Andersherum, wenn ich die Bewegungen der Materie mit dem Ziel höre, daraus ein Musikstück zu produzieren, spreche ich der bereits bewegten Materie auch eine zukünftige, eine vorausgehende Bewegung zu. Entsprechend meiner Position ist der Materie eine ästhetische Wirklichkeit inhärent, eine vorausgegangene und eine vorausgehende. Für eine Weiterführung dieser Arbeit, würde es sich sicher lohnen, diese Erkenntnisse mit religionsanthropologischen Konzepten und Theorien abzugleichen. Ich finde, dieses hier geschilderte Prinzip erinnert an den Warenfetisch nach Marx und an den Begriff des Animismus.

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